Was Genua nicht schaffen konnte ...
Ein Self-Mailer aus dem Jahr 1922
Marketing ist ein schnell lebiges Geschäft. Self-Mailer (ich denke, dass die 1922 noch nicht so genannt wurden) und Postfreistempelung gibt es heute noch, wobei die Postfreistempelung im heutigen Direkt-Mailingmarkt eher ein Nischendasein fristet. Heute arbeitet man meist mit der Frankierwelle, die gleichzeitig mit Design und Content mitgedruckt werden kann.
Die Möglichkeit, die Frankierung mitzudrucken gab es im August 1922, am Beginn der Inflation, noch nicht. Die für den Absender arbeitssparendste Variante war die Postfreistempelung, bei der die Massensendung unfrankiert beim entsprechden Postamt aufgegeben, und dort gezählt und frankiert (freigestempelt) wurden. In vielen Postämter konnten die Stempelmaschinen, die auch zum Stempeln der Briefpost genutzt wurden, relativ leicht umgerüstet werden, da die meisten Briefstempelmaschinen mit einer Zähleinrichtung ausgestattet waren. Die handschriftliche 45 - in gleicher Tinte wie die handschriftliche Adresse, könnte ein Hinweis sein, dass damals schon Massensendungen gezählt einzuliefern waren. Oder aber auch nur, dass dieser Einlieferer der Postzählung nicht traute ...
Als Italien-Freak spricht mich natürlich vor allem der Eyecatcher des Mailing an: "Was Genua nicht schaffen konnte". Und dies insbesondere, weil ich beim ersten Lesen keine Ahnung hatte, auf was dieser Halbsatz anspielt, sprich, woran Genua gescheitert war - und was in den Anfangsjahren der Weimarer Republik so sehr im allgemeinen Bewußtsein war, dass ein Berufphilatelist, konkreter ein Verleger einer philatelistischen Zeitschrift, darauf sein Marketing aufbaut.
Die Rückseite des Self-Mailers ... löst das Rätsel nicht ...
Bei den Anzeigenpreisen sieht man schon deutlicher als bei der Portohöhe des Freistempels, dass wir uns in der beginnenden Inflation befinden. Beim Googlen nach Vogels Intern. Postwertzeichen-Markt landet man recht schnell bei der heute in Würzburg ansässigen Vogel Communications Group, einem weltweit tätigen Spezialisten für individuelle und zeitgemäße B2B-Kommunikationslösungen. Was 1891 als Hobby eines Philatelisten begann, der Kontakte zu den Sammlern in aller Welt suchte, ernährt heute 820 Mitarbeiterinnen weltweit. "Zugpferd" des Verlages, der weit über 100 Fachzeitschriften herausgibt, ist der 1894 erstmals erschienene MM Maschinenmarkt. Ein philatelistisches Magazin habe ich im aktuellen Portfolio nicht entdecken können.
Jedenfalls zeigt uns dieser Blick ins aktuelle Firmenportfolio, dass es sich bei Carl Gustav Vogel aus Pößneck/Thüringen im Jahr 1922 um einen absoluten Marketing- und Medien-Profi gehandelt hat, der über 30 Jahre Berufserfahrung hatte. Klar, das Geld hat das Unternehmen mit der Fachzeitschrift MM Maschinenmarktfür die Entscheider in der Industrie verdient, aber die entscheidende Erfindung, den marktorientierten, systematischen Wechselversand wird Vogel auch für sein Hobby angewandt haben. Die verschiedenen Sprachausgaben, die in diesem Mailing erwähnt werden, deuten das an. Und ein Marketing-Profi wählt keinen Eyecatcher, den niemand versteht. Dass sich der Spruch nahezu 100 Jahre später nicht mehr von selbst erklärt, kann also nur der vergangenen Zeit und dem kollektiven bzw. individuellen Vergessen geschuldet sein.
Erst im inneren wird auf die Genua-Anspielung des Titels eingegangen.
Was Genua nicht schaffen konnte, vereinigt schon lange unsere liebe Philatelie. Sorry, so wirklich bringt mich dies auch nicht weiter, was Italien im allgemeinen und Genua im besonderen, verbockt haben könnte. Also nochmal Google gefragt - und Genua 1922 (erstmal davon ausgehen, dass es sich um was aktuelles gehandelt hat) - bringt die Konferenz von Genua und den Vertrag von Rapallo als erste beiden Treffer.
Der Vertrag von Rapallo ist in meinem geschichtlichen Hinterkopf eher als "positiv" abgelegt, eine Einschätzung, die ich nach ein wenig Auffrischung nicht vollständig revidieren möchte. Dass sich die beiden Paria der damaligen Internationalen Politik, das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik darauf einigen, die diplomatischen Beziehungen und insbesodnere auch den wirtschaftlichen Verkehr nach dem Prinzip der Meistbegünstigung wieder auzunehmen, kann nichts eigentlich nichts Schlechtes sein. Dass dieser Vertrag für zusätzliches Misstrauen in Frankreich und Großbritannien sorgte, und indirekt die Ruhrbesetzung im Jahr 1923 durch Frankreich herausforderte, konnte man im August 1922 allenfalls ahnen.
Aber im Eyecatcher geht es ja auch nicht um Rapallo, sondern um Genua. Und die Konferenz von Genua, die vom 10. April bis 19. Mai stattfand, war die erste große Finanz- und Wirtschaftskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg, an der neben den Siegermächten auch das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik teilnahmen. Damit wurden die zwei bedeutendsten damals geächteten Staaten wieder stärker in die internationale Politik eingebunden. Insbesondere für Russland bedeutete die Teilnahme praktisch die diplomatische Anerkennung seiner Revolutionsregierung.
Ist die deutschsprachige Wikipedia bei der Darstellung der Konferenzziele ("Wiederherstellung der durch den Krieg zerrütteten internationalen Finanz- und Wirtschaftssysteme") und der Ergebnisse noch sehr moderat, ist die englische Wikipedia deutlicher: "the result at Genoa was a fiasco with few positive results", was, wenn wir den vorliegenden Mailer als Zeitzeugen nehmen, der damaligen öffentlichen Meinung entsprochen haben dürfte. Und wenn man ein wenig weiterliest, kommt man zum Schluß, dass die nicht am Gastgeber Italien oder dem Versammlungsort Genua liegt, sondern die innenpolitischen Rücksichten, welche die Verhandlungspositionen der Hauptakteure aus Großbrinannien und Frankreich beeinflußten, und die aus der Nichtbereitschaft Frankreichs, über die Reperationszahlungen Deutschlands auch nur zu diskutieren, resultieren Abwesenheit der Vereinigten Staaten machten aus Genua eine "parody of summit diplomacy at its worst". (Kenneth O. Morgan zitier nach der englischen Wikipedia)
... und die Vorderseite der Antwortpostkarte
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Stephan Jürgens, AIJP, sfj@italien-philatelie.de