Portosparen auf französische Art ...
Die 20 Centesimi azzurro mit Scherrentrennung rechts lockt niemanden hinter dem Ofen hervor. Vom Verwendungszeitpunkt her nehme ich den Turiner Druck und dessen Farbe an, auch wenn ich im Sassone zur Kenntnis nehme, dass bei dieser Marke der Turiner Druck zuerst in den Verkauf gelangte. Auch wenn Sassone den Farben des Londoner Drucks höhere Preise zubilligt, sind diese Preisunterschiede in der Praxis irrelevant. Der Handelswert dieser Marke auf Brief liegt bei wenigen Euro, der Nummernstempel ist recht unleserlich abgeschlagen, deutliche Büge in beide Richtungen durch den Brief und Flecken/Tesafilm-Spuren. Und nachdem Rom seit dem September 1870 zu Italien gehört, ist diese Inlandsdestination auch nicht besonderes mehr. Auf der Habenseite ein kristalklar abgeschlagener Kreisstempel von Livorno (der aber nicht ansatzweise selten ist, nur nicht immer so schön) und ein blauer Zeilenstempel "FRANCA", wegen dem ich Beleg überhaupt genommen habe. In der Vormarkenzeit gibt es "FRANCA" (oder auch "FRANCO") Stempel, mit denen angezeigt wird, dass die Postgebühren vorausgezahlt sind. Und ab und an findet man solche vorphilatelistischen Vermerke auch in der Markenzeit. Wenn man sie nicht überbewertet und überbezahlt, kann man diese durchaus mit in die Sammlung nehmen.
Der eher unansehnliche Ankunftsstempel von Rom und der verschmierte, unleserliche "DIST" Stempel von der Zustellung in Rom tragen ebenfalls nicht zur Attaktivität dieses Beleges bei.
Aber sie zeigen, welche Geschwindigkeit die Post damals hatte: aufgegeben um 8 Uhr Morgens (8 M) war der Brief schon am selben Tag um 22 Uhr (10 S) in Rom
Gut, TrenItalia schafft dass heute mit dem Frecce Rossa, der ab Florenz ohne Zwischenhalt nach Rom fährt, in unter drei Stunden - aber der nimmt keine Post mit.
Als ich den vollständig erhaltenen Geschäftsbrief öffnete und zu verstehen versuchte, war ich verwundert, das dieser in Lille in Frankreich geschrieben war und eindeutig ein (nicht gerade geringe) Rechnung einer französischne Fabrik für "gezwirbelte Fäden aller Art" (so übersetz Google "FILS RETORS EN TOUS GENRES) betraf. Passt dazu, dass Wikipedie schreibt, dass Lille traditionell ein wichtiges Zentrum der Textilindustrie ist.
Der grüne Aufkleber im Inneren "Pour eviter des mal-entendu ... " - Um Mißverständnisse zu vermeiden möge man bitte alle Bestellungen an die Vertretung des Hauses in Italien, die Firma Joseph Kayser in Livorno schicken.
Crespel & Descamps haben wohl mit Joseph Kayser eine Exklusiv-Vereinbarung gehabt (durchaus im internationalen Handel nicht unüblich) und haben die Rechnung, die vermutlich für eine Bestellung, die direkt nach Lille geschickt worden war, nach Livorno geschickt, wo Joseph Kayser diese zur Kenntniss nehmen und in seinen Provisionsabrechnungen berücksichtigen sollte. Die 20 Centesimi für das Porto von Livorno nach Rom wird Joseph Kayser gerne gezahlt haben, dürfte bei über 1400 Francs Rechnungswert in der daraus ergebenden Provisionszahlung locker zu verschmerzen sein. Vermutlich haben die Nordfranzosen diese (und vermutlich auch andere Rechnungen) in einem größeren Paket, in dem auch Ware gewesen sein könnte, nach Livorno geschickt.
Die französische Wikipedia hat eine kurze Firmengeschichte der Familie Deschamps, nach der im Jahre 1859 in der Fabrik 200 Arbeiter beschäftigt waren, Garnrollen herzustellen. Also definitiv keine kleine Klitsche, sondern damals ein Weltmarktführer einer heute in Vergessenenheit geratenen Branche.
Für Interpretationsideen - oder auch Fehlerkorrekturen - reicht eine kurze email an mich.
Stephan Jürgens, AIJP, sfj@italien-philatelie.de